Acrylamid: Viel Rauch um nichts
von Udo Pollmer
aus EU.L.E.N-SPIEGEL 2/2006 S. 1-2
Erinnern Sie sich noch an den April 2002? Damals hatten schwedische Experten das „krebserregende" Acrylamid in Kartoffelchips und Pommes entdeckt. Die Gesundheitsbehörden der deutschsprachigen Länder handelten erstaunlich schnell und warnten die Bevölkerung eindringlich vor dem „Pommesgift". Auch unsere Verbraucherschützer nutzten die Gunst der Stunde, um sich durch Forderungskataloge an Politik, Behörden und Industrie ins rechte Licht zu rücken.
Zum Glück entbehrte dieser hektische Aktionismus jeder Grundlage. Was damals von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde: Die schwedischen Forscher hatten ihre Entdeckung schon einmal, nämlich drei Jahre zuvor, bei der Fachpresse eingereicht. Im Jahr 2000 erschien sie in Chemical Research in Toxicology unter dem Titel: „Acrylamide: a cooking carcinogen?". Dort war zu lesen, dass beim Erhitzen von Lebensmitteln Acrylamid entsteht und diese Substanz im Blut der Bevölkerung nachweisbar ist, was damals aber niemanden so recht interessierte. Zum „Skandal" kam es erst Jahre später – ...
...allerdings ohne dass wirklich neue Erkenntnisse vorgelegen hätten.
O du fröhliche
Gewissen Kreisen kam das Acrylamid gerade recht: Es war Wasser auf den Mühlen all jener, die immer schon ahnten, dass Fritten „ungesund" sind, aber nicht wussten, warum. Schließlich liegt der Fettgehalt von Backofenpommes bei mageren fünf Prozent und selbst bei McDonalds entspricht er mit 16 Prozent gerade mal dem einer Butterstulle. Dank Acrylamid konnten Eltern endlich den Zeigefinger erheben und ihren Kindern ein Lieblingsessen vermiesen. Hatten die Wissenden ihnen nicht jahrelang gepredigt, statt traditioneller Grundnahrungsmittel lieber ballaststoffhaltige Magenfüller zu mümmeln wie Knäcke an Halbfettmargarine?
Später sickerte durch, dass Sesamknäcke besonders stark belastet ist. Doch statt auch davor zu warnen, verstummten die Kassandra-Chöre. Nicht zuletzt, weil das Flaggschiff einer verklemmt-gesunden Kost, nämlich Knäcke mit Magerquark und Radieschen, „gesund" bleiben musste. Die Krebsdrohungen machten erst wieder die Runde, als es die allseits beliebten Bratkartoffeln und Röstis erwischt hatte. Als sich zur Adventszeit plötzlich Vanillekipferl und Lebkuchen als Acrylamid-Naschwerk entpuppten, änderte das Verbraucherministerium seine Strategie und gab „Entwarnung" – schließlich stand das Weihnachtsgeschäft vor der Tür.
Lieber Pommes als Wedges
Bis heute konnten, wie diese Ausgabe des EU.L.E.N-Spiegels zeigt, für den Menschen keine gesundheitlichen Risiken durch acrylamidhaltige Speisen nachgewiesen werden. Wir müssen jedoch befürchten, dass die Maßnahmen zur Minimierung des Acrylamidgehaltes die Krebsrate erhöhen – einfach deshalb, weil das ordnungsgemäße Frittieren bei hohen Temperaturen Krebsschutzstoffe erzeugt.
Aber es kommt noch schlimmer für die Anti-Acrylamid-Aktionisten: Sie haben übersehen, dass Kartoffelprodukte in der Vergangenheit immer wieder zu Vergiftungen geführt haben und dies noch heute tun – nicht per Fritteuse, sondern wegen ihres Gehaltes an natürlichen Giften wie Solanin. Die Verbraucherschützer empfehlen in ihrer Naivität sogar, Kartoffeln mit Schale zu verzehren, obwohl die ansonsten wertlose Korkschicht einen beachtlichen Gehalt an Alkaloiden aufweist. Prompt bietet unsere Lebensmittelindustrie solches als Fast Food für Kinder an: Ob „Naturchips" oder „Country Wedges", Hauptsache es klingt „ökologisch", „gesund" oder „vollwertig". Wo bleibt die vielbeschworene Selbstverpflichtung der Hersteller? Was wurde aus dem „vorbeugenden Gesundheitsschutz", dem sich die Behörden verpflichtet sehen? Und warum schweigen die Verbraucherschützer? Statt die Spiegelfechtereien gegen das Acrylamid fortzusetzen, täten Industrie, Staat und Verbraucherorganisationen gut daran, Produkte mit hohen Gehalten an gesundheitsschädlichen Inhaltsstoffen aus dem Verkehr zu ziehen statt zu bewerben – so wie es das Gesetz vorschreibt.