aus EU.L.E.N-SPIEGEL 2/2010 S. 1-2
Welche Krankenschwester, welcher Medizinstudent war im Laufe der Ausbildung nicht überzeugt, an einer heimtückischen Krankheit zu leiden? Alle frisch gelernten Symptome ließen sich zweifelsfrei am eigenen Leibe erkennen. Ich fürchtete damals auf Grund meiner zahlreichen Leberflecke das Ende meines Studiums nicht mehr zu erleben; der vermeintlich drohende schwarze Hautkrebs raubte mir die innere Ruhe.
Gefahr für Leib und Leben
Glücklicherweise endet diese Phase spätestens beim Eintritt ins Berufsleben. Die Zahl der Symptome und der möglichen Krankheiten überfordern irgendwann sogar die Vorstellungskraft eines gestandenen Hypochonders. Gelassenheit macht sich breit. Wenn der Bauch mal kullert oder es in der Brust zwickt, leidet man nicht gleich unter Darmkrebs oder Lungenkarzinom. Als ich ein Bub war, wurden solche Befindlichkeitsstörungen noch erfolgreich mit einer warmen Bettdecke, Kamillentee und einer Gute-Nacht-Geschichte behoben.
Heute setzt die Gesundheits-Branche auf...
...hollywoodreife Horrorszenarien. Allerorten erfahren wir, derartige Wehwehchen seien die ersten Warnzeichen schrecklicher Krankheiten. Hier leisten Gesundheitssendungen, die sogenannte „Rentnerbravo" (ein Apothekenblättchen) oder das Internet, Bahnbrechendes. Die gebetsmühlenartigen Aufrufe, mit einem neuen Lebensstil dem Krebs, dem Fußpilz oder der Demenz Paroli zu bieten, die säuselnden Hinweise, regelmäßig zur Vorsorge zu rennen, machen irgendwann die Angst zum steten Begleiter.
Ist der Druck hoch genug, glauben viele Menschen, dass jede schwere Krankheit ihre Ursache im schuldhaften Unterlassen einer Vorsorgeuntersuchung oder der nicht erfolgten Lebensstilumstellung habe. Ständig muss ich Patienten darauf hinweisen, dass all die schönen Versprechen, eine „gesunde Ernährung" mit viel Obst und Gemüse würde dem Krebs vorbeugen, auf Sand gebaut sind. Ob ich ihnen ihr schlechtes Gewissen nehmen konnte, und sie dann wieder herzhaft beim Gulasch zugreifen, ist fraglich.
Patientenschwemme
Und was soll ich als Hausarzt davon halten, wenn bereits junge Männer weit unter dreißig bei mir nach einer Prostatavorsorgeuntersuchung fragen? Wer Menschen von klein auf mit genügend Tipps zum vermeintlich richtigen Gesundheitsverhalten überschwemmt, erzeugt nichts weiter als Bürger, die sich ohne regelmäßigen Check zu Tode ängstigen. Tag für Tag suchen über fünf Millionen Deutsche eine Arztpraxis auf, und montags (Freizeitsportler!) sind es sogar noch eine Million mehr. Es ist ein triumphaler Erfolg der Gesundheitspolitik, allerdings auf Kosten von Patienten und Hausärzten und zum Gesunden der Gesundheitsindustrie.
Unlängst klagte ein Kollege in der taz, dass immer mehr Gesunde die Praxen der Hausärzte verstopfen. „Die scheckheftgepflegten Musterversicherten und Stammwähler etablierter Parteien mit ihrem Präventions-Common-Sense" würden uns Ärzten zwar Geld in die Praxis spülen, verhindern aber, dass für die Kranken die nötige Zeit bleibt. Es ist nicht unangenehm, Gesunde zu untersuchen und dabei Geld zu verdienen. „Aber manchmal frage ich mich, was ich da eigentlich tue. Habe ich nicht genügend Kranke zu betreuen?" Soweit der Kollege. Tatsache ist: Für die Behandlung der Kranken gibt's immer weniger Geld und für die „Versorgung" von Gesunden immer mehr.
Vorsorge: non olet
Die weit überwiegende Mehrheit von uns Hausärzten hat den Beruf aber sicherlich nicht gewählt, um von einem Gesundheitsbewusstsein zu leben, das vorher von anderen mit großen Plakataktionen und Anzeigenkampagnen generiert wurde. Angesichts der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Lage und unter dem Diktat unsinniger Budgetierungsvorschriften ist aber mancher Hausarzt tatsächlich oft nur durch solche Gesundheits-Checks in der Lage, seine Praxis, seine Angestellten und seine Familie finanziell über Wasser zu halten.
Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang aber auch, dass einige dieser Untersuchungen der Abwehr möglicher Klagen dienen. Vor allem deshalb dürfen Freizeitkicker zum Kernspin und der Vertrauensarzt kann allenfalls noch seinen vertrauenswürdigen Patienten zu Maßnahmen raten, die er selbst für richtig hält. Das alles kostet die Gemeinschaft Unsummen. Das Geld der Krankenkassen, ursprünglich zur Absicherung im individuellen Krankheitsfall gedacht, wird so zu einem nicht geringen Teil für die „Prävention" bei Gesunden verbraucht. Und so wird aus der Krankenkasse dann tatsächlich die Gesundenkasse.