von Jutta Muth und Udo Pollmer
aus EU.L.E.N-SPIEGEL 3-4/2006 S. 19-21
Jahrhundertelang und bis zum heutigen Tage wurde der Kaffee verteufelt. Jüngstes Beispiel: Kaffee gilt als Flüssigkeitsraüber. Obwohl früher jeder Volksschüler wusste, dass Kaffee mit Wasser aufgebrüht wird und daher Flüssigkeit liefert, führen heute acht Semester an einer beliebigen Universität zu dem Glauben, Kaffeetrinken verursache Flüssigkeitsverluste. Beweise für solche „Risiken" sind trotz unzähliger Studien unauffindbar. Im Gegenteil: Allmählich verdichten sich die Hinweise, dass Kaffee zu den wenigen Lebensmitteln gehört, die tatsächlich einen Gesundheitsnutzen haben können. Damit dürfen alle, die Kaffee mögen und vertragen, endlich beruhigt zu einem und sogar zu mehreren Tässchen greifen.
„Kaffee schützt vor Diabetes" – eigentlich hat diese Meldung so weitreichende Konsequenzen, dass sie gut in die Abendnachrichten gepasst hätte. Doch Fachwelt wie Fachredaktionen zogen es vor, die erfreuliche Erkenntnis gegenüber der Öffentlichkeit herunterzuspielen oder gar zu verheimlichen. Vermutlich, weil das genannte gesundheitliche Verdienst allenfalls dem Brokkoli zugestanden hätte, aber nie und nimmer einem Genussmittel, das nach bisheriger Meinung durch seinen Koffeingehalt die Glucosetoleranz beeinträchtigt und damit vor allem für Diabetiker tabu sein sollte.
Nun aber ist genau das Gegenteil wahr. Eine Metaanalyse...
...von neun Kohortenstudien mit fast 200.000 Teilnehmern redet schon bald dem hemmungslosen Konsum das Wort: Wer täglich sechs oder mehr Tassen Kaffee trank, hatte im Durchschnitt ein um 35 Prozent niedrigeres Diabetesrisiko als ein Kaffeeabstinenzler.18 In einer der analysierten Arbeiten senkten zehn und mehr Tassen pro Tag das Risiko gar um 80 %.16 Maßvoller Konsum brachte offenbar nichts: Ein oder zwei Tassen am Tag hatten keine Wirkung mehr auf die Statistik der Metaanalyse. Eine Reihe weiterer epidemiologischer Studien sowie eine prospektive Untersuchung bestätigen das Bild.
Süsse Diabetikerträume
Um das erstaunliche Phänomen zu ergründen, widmeten sich sechs weitere Studien dem Effekt des Kaffees auf Glucosetoleranz, Insulinempfindlichkeit und Nüchternblutzuckerwerte. Danach wirkt sich bereits moderater Kaffeekonsum durchweg vorteilhaft auf die Glucosetoleranz aus. In einigen, aber nicht in allen Untersuchungen konnte eine verbesserte Insulinempfindlichkeit beobachtet werden. Da Kaffee im nüchternen Zustand keinen Einfluss auf die Plasmaspiegel hatte, greift er anscheinend in den postprandialen Glucosestoffwechsel ein.17 Doch das Genussmittel eignet sich offenbar nicht nur zur Vorbeugung von Diabetes, sondern auch zu dessen Behandlung. Diabetiker leiden nachts häufiger unter Hypoglykämien und bemerken im Schlaf die Symptome einer nahenden Unterzuckerung nicht immer. Die Angst, in der Nacht zu unterzuckern und am Ende sogar in ein letales diabetisches Koma zu geraten, ist einem erholsamen Schlaf abträglich. Zudem beeinträchtigt der dabei auftretende Distress über das Cortisol die Blutzuckerkontrolle nachhaltiger als Schwarzwälder Kirschtorte. Selbst häufige leichte Hypoglykämien sind problematisch: Viele Patienten gewöhnen sich daran und verlieren so die Wahrnehmung für die ersten Warnsymptome, was die Möglichkeit des frühzeitigen Eingriffs durch Zuckerzufuhr verhindert. Forscher vom Diabetes-Zentrum im britischen Bournemouth favorisieren als Gegenmittel Koffein. Sie untersuchten die Wirkung des Kaffeeinhaltsstoffes auf den Blutzucker von 19 Patienten mit Typ-1-Diabetes, die eine nahende Unterzuckerung nicht mehr zuverlässig wahrnahmen. Die Ergebnisse waren vielversprechend. Am Tage kam es zwar in beiden Versuchsgruppen gleich oft zu leichten Hypoglykämien, doch nachts zeigten sich deutliche Unterschiede: Im Vergleich zu Placebo sank bei den Koffeinkonsumenten die Zeitspanne, in der der Blutzuckerspiegel unter 54 Milligramm pro Deziliter lag, von 132 auf 49 Minuten. Allerdings ist diese Pilotstudie zu klein, um definitive Aussagen treffen zu können.11
Kaffee für Leber, Herz und Hirn
Nicht nur die Bauchspeicheldrüse scheint vom Kaffee zu profitieren, sondern auch das Herz - und das, nachdem die Fachwelt jahrzehntelang Kranke wie Gesunde vor den negativen Auswirkungen des Koffeins auf Blutdruck und Cholesterinspiegel gewarnt hatte. Befunde, die in eine andere Richtung deuteten, wurden einfach übergangen, wie beispielsweise der Tatbestand, dass Kaffee-Extrakte die Blutgerinnung verringerten.5 Die aktuelle prospektive Iowa Women´s Health Study belegt nun mit den Daten von 27.000 Frauen (nach der Menopause), dass „Kaffeetanten" seltener an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben. Ein bis drei Tassen täglich senkten danach die Sterblichkeit an Herzleiden um ein Viertel; bei den etwas höheren Dosierungen fiel der Nutzen ein klein wenig geringer aus.1
In der genannten Studie wurde zusätzlich eine verminderte Mortalität durch Diabetes, Parkinson, Leberzirrhose und Gallensteinleiden beobachtet. Damit bestätigt sie ältere epidemiologische Arbeiten, die bereits gleichlautende Ergebnisse vorgelegt hatten, ohne dass dies auf das Interesse jener gestoßen wäre, die sich sonst mit Begeisterung auf jede Studie stürzen, die den Verzehr von Vegetabilien propagiert.3,9 Besonders gut untersucht ist die Wirkung bei alkoholbedingten Leberschäden. In einer Studie mit fast 13.000 Probanden fand man „unabhängig von anderen Faktoren einen starken Zusammenhang zwischen Kaffeegenuss und verringerter Aktivität der GGT [Gammaglutamyltransferase] bei Männern". Interessanterweise „war die umgekehrte Beziehung zwischen Kaffee und Serum-GGT bei stärkeren Trinkern ausgeprägter und fehlte bei Abstinenzlern". Auch für die Aspartat- und die Alaninaminotransferase wurden ähnliche inverse Korrelationen mit Kaffee und Wechselwirkungen zwischen Kaffee und Alkoholkonsum beobachtet. Grüner Tee hatte keinen Einfluss.14 Mittlerweile kam eine weitere Arbeit (NHANES I) zu den gleichen Resultaten.12 Betrachtet man die Ergebnisse ein wenig genauer, dann sinkt das Diabetesrisiko weniger bei den „Gesunden", sondern vor allem bei den Dicken, das Herzinfarktrisiko insbesondere bei den Rauchern, und das Zirrhoserisiko speziell bei den Trinkern.1,14,19 Mal sehen, ob die Gesundbeter den Mut aufbringen, gerade diese Menschen statt mit Diätschikanen mit dem freundlichen Hinweis zu entlassen, dass eine Kanne Kaffee hilft.
Bis heute ist unklar, worauf die positiven Effekte beruhen, hatten sich die Experten bisher doch nur auf potenziell gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe kapriziert. Der Hauptverdächtige, das Koffein, ist anders als beim Typ-1-Diabetes offenbar beim Typ-2-Diabetes an der Blutzuckerkontrolle unbeteiligt: In mehreren Studien erwiesen sich entkoffeinierte Bohnen dem Kaffee in Sachen Diabetesschutz ebenbürtig, während sich der als besonders gesund gepriesene schwarze Tee als wertlos entpuppte.6,13,19 Einige Autoren versuchen, die gesundheitlichen Wirkungen mit beliebig herausgegriffenen Inhaltsstoffen sowie phantasievollen biochemischen Theorien zu erklären. So fehlt nicht der Hinweis auf den hohen Antioxidanziengehalt des Kaffees, der wohl nur noch von Autoreifen und dem Kondensat des Zigarettenrauchs übertroffen wird. Andere Spezialisten vermuten Lignane als Urheber, die durch die Darmflora in Enterolakton und Enterodiol umgewandelt werden. Wieder andere spekulieren auf Chlorogensäure, die zusammen mit dem beim Rösten gebildeten Derivat Chinidin im Tierversuch die Glucosekonzentrationen senkte und die Insulinempfindlichkeit erhöhte.1,17 Die Spekulationen über die Inhaltsstoffe des Kaffees schießen mit der Hoffnung auf eine vermarktungsfähige Substanz immer mehr ins Kraut. Dabei wird vor lauter biochemischem Hokuspokus ein ganz anderer, aber naheliegender Mechanismus übersehen: der Einfluss auf den Distress, einer der Hauptursachen der Zuckerkrankheit.2 Diabetiker wissen, dass ihre Blutzuckerkontrolle weniger bei einem Festbankett als unter negativem Stress aus den Fugen gerät. Bekanntermaßen greift dieser auch das Herz-Kreislauf-System an. Unter dem Stressaspekt betrachtet erstaunt es dann kaum noch, dass Kaffee eine stark inverse Beziehung zum Suizid aufweist (drei Tassen täglich senkten das Risiko um zwei Drittel), wie zwei prospektive Arbeiten zeigen.7,8 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Genussmittel bei Depressionen wirksamer sein könnte als manch ein Psychopharmakon.
Mit Kaffee geerdet
Die Wirkung von Koffein auf den Serotoninstoffwechsel ist wohlbekannt: Kaffeetrinker „brauchen" ihr Tässchen, um sich richtig wohl zu fühlen. Trotz der anregenden Wirkung werden sie nicht etwa hektisch, sondern ausgeglichen, d. h. sie „erden" sich damit. Andere Genussmittel wie Schokolade und Alkohol bis hin zur (freiwilligen) sportlichen Betätigung oder Sex wirken vermutlich ebenfalls über den Mechanismus der Stressreduktion auf den Gesamtstoffwechsel. Die Untersuchungen zum Einfluss von Kaffee auf Distress sind dünn gesät. Immerhin bestätigt eine Studie mit Schwangeren, dass Kaffee das Cortisol tatsächlich senkt. In einem kleinen Experiment mit zehn Frauen im letzten Trimester wurden die Folgen einer Tasse Kaffee auf die Cortisolwerte im Speichel und auf den Blutfluss von Mutter und Kind überprüft. Dabei sank das Speichelcortisol signifikant, ohne dass negative Effekte auf den Blutkreislauf der Mütter oder ihrer ungeborenen Kinder aufgetreten wären. Die Autoren mutmaßen, dass sich der Kaffee auch positiv auf das Ungeborene auswirken könnte, denn mütterlicher Distress schadet dem Fötus. So führt Stress während der Schwangerschaft beim Kind im Erwachsenenalterhäufiger zu Bluthochdruck. Bei nicht schwangerenFrauen war der Effekt des Kaffees nicht so ausgeprägt: Zwar sank auch hier das Cortisol, allerdings ohne Signifikanzniveau zu erreichen.15
Dämpfer für Cortisol
Die wenigen anderen Untersuchungen zum Thema konzentrierten sich auf das Koffein. Zwar verbesserte es im Experiment die Stimmung und reduzierte Ängste, aber die Cortisolwerte im Speichel änderten sich dadurch nicht.10 Auch wenn diese Beobachtung zunächst gegen einen Einfluss der Glucocorticoide zu sprechen scheint, so wäre ein solcher Schluss voreilig. Denn das metabolische Syndrom wird in erster Linie vom Distress gefördert: von Kummer, Angst und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. In diesen Situationen unterbleibt die Senkung des Cortisols, wie es sonst beispielsweise nach überstandener Gefahr der Fall ist. Das Fehlen eines circadianen Cortisolrhythmus im Blut ist deshalb typisch für das metabolische Syndrom: Der Körper zieht das überschüssige Stresshormon mittels seiner Fettzellen aus dem Blut, die er offenbar entsprechend dem Cortisolangebot vermehrt. Der Spiegel wirkt damit wieder „normal", aber sein circadianer Rhythmus bleibt aus (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2005/H.1/S.8). Genau hier scheint der Kaffee einzugreifen. Einen deutlichen Hinweis lieferten Schweizer Forscher, als sie die Wirkung eines Kaffee-Extraktes (entsprechend einer Tasse Espresso) auf den Cortisol-Stoffwechsel prüften. Dieser blockierte die endogene Aktivität der 11-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 1. Weil dieses Enzym das Cortisol recycelt, verminderte der Extrakt letztlich die Verfügbarkeit von Cortisol. Die Forscher glauben damit eine plausible Begründung für den Diabetesschutz durch Kaffee gefunden zu haben.4
Fazit: Bislang haben die meisten Ärzte ihre Patienten besonders bei Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Leberproblemen vor „übermäßigem" Kaffeegenuss gewarnt. Nun aber wurde die niedrigste Gesamtsterblichkeit bei stolzen vier bis fünf Tassen am Tag beobachtet. Kaffee senkte dabei spezifisch das Risiko für Diabetes, Herzinfarkt, Leber- und Gallenleiden, Parkinson sowie Suizid. Bis heute ist kein anderes Lebensmittel mit einem derart günstigen Wirkungsprofil bekannt. Vielleicht ist das der Grund, warum die Menschheit ihren Kaffee so außerordentlich schätzt. Sein positiver Effekt lässt darauf hoffen, dass sich auch andere Genussmittel als günstig erweisen werden. Da die Wirkung offenbar auf einer Reduktion von Distress beruht, ist es nicht weiter verwunderlich, dass bei einer aufoktroyierten Gesundkost mit Vollkorn und rohem Gemüse kein Gesundheitsnutzen nachgewiesen werden konnte.
Literatur
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3) Ascherio A et al: Coffee consumption, gender, and Parkinson's disease mortality in the cancer prevention study II Cohort. American Journal of Epidemiology 2004/160/S.977-984
4) Atanasov AG et al: Coffee inhibits the reactivation of glucocorticoids by 11-beta-hydroxysteroid dehydrogenase type 1: A glucocorticoid connection in the anti-diabetic action of coffee? FEBS Letters 2006/580/S.4081-4085
5) Bydlowski SP et al: Coffee extracts inhibit platelet aggregation in vivo and in vitro. International Journal of Vitamin and Nutrition Research 1987/57/S.217-223
6) Greenberg JA et al: Coffee, tea and diabetes: the role of weight loss and caffeine. International Journal of Obesity 2005/29/ S.1121-1129
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13) Salazar-Martinez E et al: Coffee consumption and risk for type II diabetes mellitus. Annals of Internal Medicine 2004/140/S.1-8
14) Tanaka K et al: Coffee consumption and decreased serum gamma-glutamyltransferase and aminotransferase activities among male alcohol drinkers. International Journal ofEpidemiology 1998/27/S.438-443
15) Tsubouchi H et al: Effect of coffee intake on blood flow and maternal stress during the third trimester of pregnancy. International Journal of Gynecology and Obstetrics 2006/92/ S.19-22
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17) Van Dam RM: Coffee and type 2 diabetes: From beans to beta-cells. Nutrition, Metabolism and Cardiovascular Diseases 2006/16/S.69-77
18) Van Dam RM, Hu FB: Coffee consumption and risk of type 2 diabetes. JAMA 2005/294/S.97-104
19) Wu T et al: Caffeinated coffee, decaffeinated coffee, and caffeine in relation to plasma C-peptide levels, a marker of insulin secretion, in U.S. women. Diabetes Care 2005/28/S. 1390-1396