Neue BMI-Studie offenbart Willkür im „Pippi Langstrumpf“-Design
Nachdem aktuelle Meta-Analysen bestätigten, dass Übergewicht nicht mit einer erhöhten Sterberate [1] respektive sogar mit einer längeren Lebenserwartung korrelierte [2], kam nun, was kommen musste: Die Autoren einer weiteren Meta-Analyse kolportieren brandaktuell, dass Übergewicht doch mit früherem Ableben assoziiert ist [3]. Auch wenn damit das „ökotrophologische Gleichgewicht“ wieder hergestellt erscheint (eine Studie kannibalisiert die vorherige) – so einfach ist es auch diesmal nicht.
Das hat vor allem zwei Gründe, so Ernährungswissenschaftler Uwe Knop: „Erstens taugt der BMI nicht zur Vorhersage von Gesundheit und Krankheit oder gar als `Sargnagel´. Zweitens ist der BMI nicht mehr als ein Marker für eine Korrelation, die keinerlei Schlüsse zur Kausalität erlaubt.“ Damit wäre das Paper schon vom Tisch, „wenn da nicht auch noch an den Daten gedreht worden wäre, um den behaupteten Zusammenhang zu konstruieren“, so Udo Pollmer, wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E. e.V.).
Man wagt ja kaum die zentrale Manipulation zu benennen – sie taugt nur noch zum Fremdschämen: Die Autoren haben fast zwei Drittel der...
...Probanden aus ihrer Analyse entfernt. „So wurden Raucher, Ex-Raucher und chronische Kranke eliminiert. Doch insbesondere letzte sind die Gruppen, für die es wohl gesünder und lebensverlängernder ist, körperliche `Übergewichts´-Reserven zu haben“, erklärt Knop.
Zahlreiche Studien der letzten Jahre haben dies gezeigt [4]. Die Autoren machen daraus auch keinen Hehl: Ohne diese „Daten-Säuberung“ wäre ihre Untersuchung zum gleichem Ergebnis wie [2] - Übergewicht = niedriges Sterberisiko – gekommen. Das ist sogar in der Publikation zu lesen. Damit gilt weiterhin: „Für die Mehrheit der Menschen bedeutet sogenanntes Übergewicht ein längeres Leben. Das ist das reale Ergebnis der Studie“, resümiert Pollmer.
Schlankes Normalgewicht = früher Tod!
Doch selbst bei den verbleibenden und zur Kalkulation des Sterberisikos herangezogenen knapp 4 Millionen Probanden (von insgesamt 10,6 Millionen) gibt es eine alarmierende Übereinstimmung mit älteren Publikationen: Untergewicht führt schnell auf den Friedhof. Konkret: Untergewicht (BMI unter 18,5) ist „tödlicher“ als ein Fettleibigkeits-BMI von 30 bis 35! (HR 1.51 zu 1.45, Table 2). Und das obwohl die Raucher, die ein niedrigeres Gewicht und eine höhere Sterblichkeit haben, vorher eliminiert wurden.
Selbst ein BMI von 19,9, also ein sogenanntes „niedriges BMI-Normalgewicht“ (!), bringt den „statistischen Menschen“ früher ins Grab (HR 1.13, Table 2) „Nimmt man die Daten ernst, brauchen wir nicht nur Maßnahmen gegen das gefährliche Untergewicht, sondern insbesondere gegen den Schlankheitswahn, der jungen Menschen allerorten gepredigt wird“, fordert Pollmer.
Interessantes offenbart auch das Zusatzmaterial der Studie: So wurde das Körpergewicht von den Probanden mitunter selbst gemessen – ergo eine wissenschaftlich wenig glaubwürdige Variable [5, eTable 22), denn die Sterblichkeit der Übergewichtigen liegt bei der professionellen Messung niedriger. Zudem ist die Sterblichkeit bei Übergewichtigen in aktuellen Studien - ab 1990 - niedriger als noch davor [5, eTable 23].
BMI = Bitte Mehr Intelligenz!
Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an grundlegende Schwächen des BMI: „Der BMI erlaubt keine Unterscheidung zwischen Körperstatur und Geschlecht noch zwischen Muskel- und Fettmasse sowie deren Verteilung“, erläutert Knop. Pollmer ergänzt: „Der BMI ist bei Frauen in erster Linie von der Oberschenkellänge abhängig - wer kurze Beine hat, hat halt Pech gehabt. Und beim Mann von der Schulterbreite: Wer schmale Schultern hat und auch sonst schwindsüchtig aus der Wäsche guckt, ist natürlich viel `gesünder´ als ein kräftiger Kerl. Der BMI ist kein wissenschaftlicher Maßstab, sondern primär Mittel zur Diskriminierung.“
Die Studie unterstellt, ohne es explizit zu benennen, dass „verschlankte“ Korpulente die gleichen Merkmale erwerben, wie Menschen, die dank ihres Körperbaus Zeit ihres Lebens hager bleiben. Aus einem halbverhungerten Mops wird kein gesunder Windhund und aus einem Windhund, der sich als Katzenjäger hervorgetan hatte, durch Mästung kein freundlicher und umgänglicher Mops.
Das Fazit -> überlassen wir Pippi Langstrumpf: „Ich mach mir die Welt, widdewiddewitt wie sie mir gefällt“, gebührt den aktuellen BMI-Rechenspielchen zur Wiederherstellung der „political BMI-correctness“ am ehesten. Hinzu kommt: Der Versuch, die Daten zur Sterblichkeit aus "vier Kontinenten" mit ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen und Todesursachen auf den BMI zu reduzieren, spricht dafür, dass es sich bei der "Global BMI Mortality-Collaboration" eher um "globale Diät-Collaborateure" handelt, ergo um eine pseudomedizinische Windmaschine, die die Geldscheine des Publikums in die Netze der Diäten-Dealer blasen soll.
Quellen
[1] The Morbidity and Mortality Associated With Overweight and Obesity in Adulthood: A Systematic Review; Dtsch Arztebl Int 2009; 106(40): 641-8; DOI: 10.3238/arztebl.2009.0641
[2] Association of All-Cause Mortality With Overweight and Obesity Using Standard Body Mass Index Categories: A Systematic Review and Meta-analysis; JAMA. 2013;309(1):71-82. doi:10.1001/jama.2012.113905
[3] Body-mass index and all-cause mortality: individual-participant-data meta-analysis of 239 prospective studies in four continents; Lancet (2016; doi: 10.1016/S0140-6736(16)30175-1)
[4] «Übergewichtige Herzinsuffizienz-Patienten leben länger» und «Gesunde Adipositas» (Deutsches Ärzteblatt, 04. 01. 2015)
«Adipöse überleben Sepsis häufiger» (Deutsches Ärzteblatt, 07. 08. 2014)
«Abspecken schützt nicht vor Herzinfarkt» (Ärzte-Zeitung, 26. 06. 2013)
«Schlaganfall und Herzinfarkt – ein hoher BMI an sich ist kein Risiko» (SpringerMedizin, 04. 09. 2013)
«Dicke Schlaganfallpatienten haben bessere Prognose – das Adipositas-Paradoxon im Fokus» (cardio news, 01/02 2013)
«Übergewicht von Vorteil? Das Obesity Paradox: Dicke verkraften zweiten Schlaganfall besser» (Ärzte-Zeitung, 14. 01. 2013)
«BMI und Lebenserwartung – ein paar Kilo zu viel schaden nicht» (SpringerMedizin, 09. 01. 2013)
«Die Gleichung ‹schlank = gesund› geht bei Herzinsuffizienz nicht auf», oder «Dicker Bauch stützt schwaches Herz» (Ärzte-Zeitung, 05. & 12. 07. 2012)
«Schlanke Typ-2-Diabetiker sterben früher» (Medical Tribune, 21. 09. 2012)
«Adipositas-Paradox: Schlanke Typ-2-Diabetiker stärker gefährdet» (idw, Deutsche Diabetes Gesellschaft, 04. 10. 2012)
«Ein hoher BMI per se erhöht Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko nicht» (Ärzte-Zeitung, 25. 09. 2013)
[5] SUPPLEMENTARY von [3] Body-mass index and all-cause mortality: individual-participant-data meta-analysis of 239 prospective studies in four continents; Lancet (2016; doi: 10.1016/S0140-6736(16)30175-1)
21. Juli 2016
Autoren / Ansprechpartner:
Europäisches Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E. e.V.)
Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker
Nikolaus Ott, Stochastiker
Uwe Knop, Ernährungswissenschaftler