Der Autor und Lebensmittechemiker Udo Pollmer kritisiert die Idee einer für alle gleichermaßen gesunden Ernährung. Er hält die Mittelmeer-Diät für Unfug und sagt, Veganer seien Wirklichkeitsflüchtlinge. Im Interview mit Nicole Golombek.
erschienen in Sonntag Aktuell am 13.04.2014
NG: Herr Pollmer, gesund bleiben kann man nur, wenn man isst und trinkt, was man nicht mag, und tut, wozu man keine Lust hat, sagt Mark Twain.
UP: Bingo! In einer protestantischen Gesellschaft ist alles, was wir mögen, des Teufels. Der Geist ist stark, und das Fleisch ist schwach. Ich aber sage: Der Geist der Ernährungsberatung ist schwach, aber das Fleisch ist klug.
NG: Apropos Fleisch. Liegt nicht so im Trend. Immer mehr Leute, darunter viele junge, sind Veganer.
UP: Junge Menschen treten nun mal erwartungsvoll ins Leben. Aber sie haben heute kaum noch Freiheiten, weil sie allerorten vor allen Gefahren geschützt werden sollen. Wo gibt es noch Abenteuer? Wo können sich Jungs noch bewähren? Also fahren sie in den Busch und retten Gazellen oder schützen Robbenbabys vor den Eisbären. Dort leben sie die Freiheit aus, die sie hier vermissen. Oder sie bleiben hier, wo sie sich am besten über exotische Ernährungsweisen vom Rest der Gesellschaft abheben können. Wer sich kasteit oder sich zwingt, Dinge zu essen, die er eigentlich nicht mag, der setzt sich genauso einer Prüfung aus und...
...lotet seine körperlichen Grenzen aus. Das ist völlig normal.
NG: Es gibt aber auch ethische Gründe fürs vegane Leben.
UP: Natürlich wird das dann alles moralisch überhöht – egal ob das Klima vor dem Weltuntergang gerettet werden soll oder jugendliche Körper vor dem Altersschwachsinn – daher kommen dann die Sprüche von den Tieren, die man liebhat und die man nicht essen will. So wollen sie ihre Unschuld bewahren. Dahinter steckt natürlich auch die Weigerung, erwachsen zu werden und sich vom Bösen in der Welt fernhalten zu können. Und doch ziehen sie mit jedem Atemzug die Welt in sich hinein und atmen ihre „Abgase“ wieder hinaus in die Welt. Ein Leben lebt vom Leben des anderen. Das nennt man Nahrungskette. Um all das Getreide und die Früchte der Veganer ernten und lagern zu können, müssen massenweise Wühlmäuse und Ratten getötet werden. Und die werden grausamer abgemurkst als die Schweine in einem modernen Schlachthaus. Auch wir Menschen sind Teil der Natur und leben in einer Nahrungskette. Wir Menschen haben es nur eben geschafft, selten gefressen zu werden...
NG: Gespräche über Ernährung, gleichen Glaubenskriegen. Jeder hält sich nicht nur für den gesünderen, sondern für den besseren Menschen. Warum?
UP: Wo klassische religiöse Werte an Bedeutung verlieren, kommen andere Vorstellungen, auch alte Vorstellungen im neuen Gewand wieder hoch. Wenn Sie 80 Jahre zurückgehen, da galt die sogenannte Selbstbefleckung als Ursache aller Krankheiten. Man hat den Kindern gewöhnlich die Hände auf der Bettdecke festgebunden. Mit der gleichen Boshaftigkeit und Hinterhältigkeit versucht man heute, den Nahrungstrieb des Menschen zu dämonisieren. Man sucht das Heil nicht mehr im Jenseits, sondern im Diesseits. Lebst du in Angst um deine Gesundheit, zwingst du deinen Körper zu Dingen, die ihm widerstreben, dann lebst du besonders lange. Und erwartungsvoll hungert sich eine Gesellschaft ins Pflegeheim.
NG: Viele sagen, mit Ernährung, etwa der sogenannten Mittelmeer-Diät, könnte man zur eigenen Gesundheit beitragen: 30 Prozent weniger Diabetes-Anfälligkeit, vermindertes Herz-Kreislauf-Krankheitsrisiko. Die Japaner etwa behaupten, wenig Fett und viel Fisch bewirkten Langlebigkeit.
UP: Zunächst einmal: Was heute als Mittelmeer-Diät gepriesen wird, ist wenig Fett, wenig Fleisch und viel Rohkost und Vollkorn. Und das ist genau das Gegenteil dessen, was am Mittelmeer gegessen wird! Der Fleischkonsum in Spanien etwa ist deutlich höher als in Deutschland, das Essen schwimmt im Fett und ist salzig. Es wird traditionell Wein getrunken und keine Light-Limo. In Italien isst man Pizza und Pasta, was hier als Fast Food verteufelt wird. Und schon sind wir beim nächsten religiösen Thema. Wie zuverlässig sind denn in Griechenland oder Japan die Totenscheine? Es soll ja in Japan Schwärme von über 100Jährigen geben, die mit ihrer Kauleiste Fisch von den Gräten zuzeln und Reis verdrücken. Als die Japaner ihre über 100Jährigen mal besuchen wollten, stellte sich heraus, die Alten leben alle nicht mehr. Über Nacht waren Hunderttausende verschwunden. Die hohe Lebenserwartung war die Folge von Rentenbetrug über Generationen. Der Regierungschef beklagte daraufhin den Verfall der Sitten.
NG: Das gepriesene Olivenöl soll also nicht gesünder sein als Butter und Schmalz?
UP: Alle Fette, die Sie essen, wandelt unser Körper in Landtierfette um, weil unser Körper Fischöl nicht gebrauchen kann. Wenn Kinder geboren werden, bildet der Körper auch in Griechenland aus Olivenöl Milchfett (Butter), um den Säugling stillen zu können. Das ist eine gewaltige evolutionäre Errungenschaft. Wir sind nun mal Säugetiere!
NG: Die Menschen rund ums Mittelmeer verwenden aber eher Öl als Butter zum Kochen und sind auch Säugetiere.
UP: Sie können ja auch wunderbar mit Olivenöl leben – aber Sie haben nach gesünder gefragt. Wir haben hier in unseren Breiten viel Tierhaltung, weil wir auf der Alb oder im Schwarzwald schlecht Ananas anbauen können. Im Süden ist der Ölbaum der effektivste Fettlieferant, für Schweine ist es meist zu trocken. Sie können natürlich sagen, ich ernähre mich mit den Spezialitäten aus Marseille. Das ist zwar unökologisch, aber ansonsten kein Problem. Aber eine Bouillabaisse ist doch nicht gesünder als Spätzle mit Linsen und Saitenwürsten.
NG: Dann kann ich jetzt also wieder guten Gewissens Rohmilchbutter essen.
UP: Sie brauchen diesmal kein Gewissen, sondern Ihren Gaumen. Der hält Sie bei Kräften.
NG: Halten Sie Ernährungsempfehlungen, dass man viel Obst und Gemüse (5-am-Tag) essen soll zum Beispiel, für Kokolores?
UP: Viele Menschen, die sich an die pauschale Empfehlung gehalten haben, haben heute massive Darmprobleme. Die sind parallel zur 5-am-Tag-Kampagne in Deutschland angestiegen. Es geht hier aber um eine grundsätzliche Frage: Die Idee einer für alle gleichermaßen gesunden Ernährung ist so, als würden Sie allen Menschen die gleiche Schuhgröße empfehlen. Also grottendämlich. So wie das Immunsystem bei jedem verschieden ist, so ist es auch mit der Verdauung. Es gibt keine Ernährung, die für alle gut ist. Hätte ich vor 40 Jahren befolgt, was Ernährungsspezialisten geraten haben: viel Fleisch essen, weil ein Stück Lebenskraft, dann hätte ich für die Mengen den Magen von einem Tiger gebraucht. Gegen Ende meines Studiums hätte ich mir die Verdauung eines Huhnes zulegen müssen und einen Schnabel für all die Körner. Heute bräuchte ich einen Pansen, um all das vegetarische Stroh nutzbringend verdauen zu können. Aber mein Verdauungstrakt ist immer noch derselbe! Die Empfehlungen verfeinern sich ja nicht. Es wird immer wieder nur eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Mich ärgert diese Unaufrichtigkeit.
NG: Haben Sie ein Beispiel?
UP: Calcium in der Menopause, das für die Knochen gut sein soll. Theoretisch hätte es gegen Osteoporose wirken sollen. Inzwischen hat man über große Studien an Frauen herausgefunden, dass das Calcium nichts von den Prospekten weiß und sich deshalb statt in den Knochen lieber in den Blutgefäßen ablagert. Es kommt, wer hätte es gedacht, zur Verkalkung. Die Folge war in den Studien eine deutliche Zunahme von Herzinfarkt. Das Cholesterin ist absolut lachhaft dagegen.
NG: Ein gewisses Ernährungswissen kann nicht schaden. Gerade in den Schulen wäre Ernährungskunde hilfreich.
UP: Da wird dann der gleiche Mist erzählt, der in den letzten 40 Jahren vielen Frauen, die ans Kalorienzählen geglaubt haben, die Lebensqualität ruiniert hat. Statt die jüngere Generation zu Angst vor Fett zu erziehen, sollte man ihr zeigen, wie gekocht wird, wie man aus den üblichen Rohstoffen ein traditionelles Gericht erzeugt – und nicht Rohkostgarnituren schnitzt, denn das versteht man heute an vielen Schulen als „Kochunterricht“.
NG: Massig viel Fett auf den Rippen kann aber doch der Gesundheit und den Gelenken nicht förderlich sein.
UP: Viele Menschen werden dicker, wenn sie massiv unter Stress gesetzt, gemobbt werden, sich in einer aussichtslosen Position befinden. Dann nehmen sie zu, weil ihr Körper das Hormon Kortisol ausschüttet. Das ist das Gleiche, was in den Kortisontabletten drin ist: Die fördern auch Fett am Bauch, außerdem Diabetes und Herzinfarkt. Die Hageren nehmen bei Stress ab, die Korpulenten nehmen zu. Das sind hormonelle Wirkungen. Diäten bedeuten für den Körper massiven Stress. Auch ein Mops wird kein Windhund, wenn sie ihn nur lange genug hungern lassen. Manchmal wirken die Abnehmtipps schon ein wenig sadistisch.
NG: Alles Sadistinnen? Das klingt schon ein bisschen nach Verfolgungswahn.
UP: Aber nein: Dass bei Diäten nicht das Reservefett abgebaut wird, wissen ausgebildete Ernährungsfachkräfte natürlich. Statt am Bauch verflüchtigt sich gewöhnlich zuerst das Fett am Busen. Das Fett kommt später wieder – aber diesmal an Bauch und Beinen. Toll! „Kaloriensparen“ geht auch auf die Psyche: Man wird unausstehlich und kratzbürstig, die Kolleginnen im Büro bekommen das zu spüren, und es gibt Ärger in der Familie. Jede Ernährungsberaterin weiß das. Mir sagte einmal eine Kollegin aus einer einschlägigen Redaktion: „Natürlich wissen wir, dass die Frauen durch unsere Diäten dicker, unglücklicher und kränker werden. Aber wenn wir das nicht tun, kaufen sie unsere Zeitung nicht mehr.“ Ehrlich gesagt, ich glaube das nicht.